Bus gecancelt! Alle auf nach Prag! Mobivortrag und Anreise zu den Protesten am 17.11. gegen den tschechischen Nationalfeiertag!
Am 17.11. mobilisieren unsere Genoss_innen der „Initiativa Ne Rasismu!“ zu Protesten gegen den tschechischen Nationalfeiertag in Prag. Wir unterstützen sie dabei und werden eine gemeinsame Busanreise organisieren. Alle Infos bekommt ihr am 03.11. 20 Uhr im AZ Conni beim Mobivortrag mit den tschechischen Genoss_innen. Leider mussten wir unseren Bus nach Prag canceln. Falls ihr bereits Tickets gekauft habt, könnt ihr diese im Buchladen König Kurt (Rudolf-Leonhard-Straße 39/ Öffnungszeiten: Dienstag – Donnerstag: 15:00 -21:00 Uhr) umtauschen. Hier findet ihr den Aufruf aus Prag:
Nationalismus ist keine Alternative: Für eine freie und solidarische Gesellschaft
Im Prager Zentrum: Hunderte Menschen halten tschechische Flaggen in ihren Händen und rufen nach einer Regierung der festen Hand. „Anständige Tschechen“ rufen gemeinsam mit bekannten Figuren der ultranationalistischen Unterwelt zu Angriffen auf „Volksverräter“ auf, die angeblich die nationale Souveränität bedrohen. Die Rede von der tschechischen Kultur, den nationalen Werten und der Angst um unsere Kinder sind nicht nur auf diesen Aktionen zu hören.
Die hohe Politik verlieht diesen nationalistischen Ausbrüchen mit ihren eigenen Aussagen Legitimität. Es scheint, dass es schon kein Problem mehr ist, wenn der stellvertretende Premierminister den Holocaust an den Roma leugnet und sie bezichtigt, nicht arbeiten zu wollen. Es scheint schon normal zu sein, wenn der Innenminister sagt, dass die Tschechische Republik auch nicht einen einzigen Flüchtling aufnimmt, und wenn sein Staatssekretär, verantwortlich für die tschechische MIgrations- und Asylpolitik, bei öffentlichen Diskussionen an der Seite bekannter Fremdenfeinde sitzt, Kriegsflüchtlinge als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet und die Bemühungen der EU, wenigstens einen Teil der Flüchtlinge zu integrieren als „neomarxistisches Experiment“ bezeichnet.
Und das alles in einer Situation, in der immer weiter Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken und zehntausende weitere unter unwürdigsten Bedingungen in den überfüllten Lagern in Griechenland und anderswo verharren. Es ist gerade der politsche Mainstream, der die politische Praxis immer weiter nach rechts treibt, in Richtung Populismus und Autoritarismus. Das Heraufbeschwören einer Bedrohung funktioniert als verlässliches Werkzeug zur Ablenkung von den eigentlichen Problemen. In einer Atmosphäre der Angst widmet man sich weitaus weniger dem Fehlen von Sozialwohnungen, niedrigen Löhnen oder der Unterfinanzierung von Schulen und Gesundheitswesen. Populistische Rethorik spielt die Probleme der Menschen in einer wirklichen Notlage herunter und widmet sich dem Aufbau abstrakter Bedrohungen, wie beispielsweise der Bedrohung nationaler Interessen oder dem Zusammenbruch der traditionellen Familie.
Die bereits erwähnten nationalen Werte sollen wir dann aber um jeden Preis verteidigen, auch wenn nicht ganz klar ist, was sich hinter diesem Schlagwort überhaupt verbirgt. Fast könnte man meinen, dass es hauptsächlich um das Recht auf billiges Bier und Würstchen geht, und darum, das Schicksal „unserer Frauen“ bestimmen zu dürfen, die für’s Vergnügen allein der tschechischen Männer bitteschön nackt zu sein haben.
Mit Ausnahme der SPD Okamuras fielen die Wahlergebnisse aller ultrarechten Parteien, von denen es in der tschechischen politischen Szene gleich mehrere gibt, in den gerade abgehaltenen Senats- und Kommunalwahlen eher trist aus. Aber das ist kein Grund zur Freude. Sie stellen nämlich nur die Spitze des Eisbergs der tschechischen reaktionären Politik dar. Diejenigen, die in der Praxis die Massnahmen beschliessen und umsetzen, die schliesslich zur Faschisierung der Gesellschaft führen, sind die Parteien des politischen Mainstreams. Und das ebenso auf nationaler wie auf kommunaler Ebene. Wie die Einführung solcher Massnahmen in der Praxis, mit Unterstützung der Bürger, aussieht, konnten wir im vergangenen Sommer beobachten, als aufgrund der vermeintlichen Gefahr, die angeblich von Menschen auf der Flucht ausgehen soll, Grenzkontrollen auf Strassen und in Zügen wieder aufgenommen wurden und auf den Strassen das Militär patroullierte. Wegen eines angeblich drohenden terroristischen Anschlags wurde die Anzahl der Polizisten weiter erhöht und es gibt vermehrt Vorschläge zur Erweiterung ihrer Kompetenzen. Die paar wenigen Flüchtlinge, die sich in die Tschechische Republik eher verirrt als sich zum Ziel gewählt hatten, wurden für lange Zeit in geschlossene Einrichtungen gesperrt. Proteste gegen diese Verletzung ihrer Menschenrechte waren in der Öffentlichkeit kaum zu vernehmen. Im Gegenteil, es fanden sich genug solcher Leute, die jeden Menschen mit ein wenig dunklerer Hautfarbe bei der Polizei meldeten, den sie in dieser Zeit trafen. Egal, ob es sich um die Mitglieder einer Folkloregruppe aus Afrika handelte oder um ausländische Saisonarbeiter, die sich nach der Arbeit auf dem Feld an der Strasse ausruhten. Ohne grössere Aufmerksamkeit zu erregen, kehrt auch die Zwangsarbeit für Arbeitslose zurück. Ebenso widerstandslos, wie die genannten Massnahmen umgesetzt wurden, stellten die politischen Parteien umstandslos fest, dass autoritäre und rückwärtsgewandte Politik ein funktionierendes Mittel ist, um sich die Gunst der Wähler zu erhalten.
Der 17. November ist der tschechische Nationalfeiertag. Gefeiert wird das Ende des autoritären Regimes, eines Regimes, das man sich im Allgemeinen als etwas vorstellt, das von aussen kam und die Nation unterdrückte. Als nationales Narrativ ist der 17. November Symbol der Emanzipation aus der Abhängigkeit von fremden Völkern und der Reintegration in die Reihen der freien, souveränen und demokratischen Staaten der westlichen Welt.
Diese wiedererlangte „nationale Freiheit“ war jedoch kein Sieg für alle. Es ist in Vergessenheit geraten, dass der Regimewechsel nicht nur eine grössere Auswahl an Konsumwaren und Reisefreiheit für die MIttelklasse gebracht hat. Der Regimewechsel betraf auch die weniger privilegierten Schichten der Gesellschaft.
Das neue alte Heldentum in Verbindung mit Antikommunismus, der de facto heftigen Widerstand gegen alles Linke bedeutete, legitimierte die negativen Konsequenzen des Aufstiegs des neoliberalen Kapitalismus – unter anderem das Anwachsen von Ungerechtigkeit, sozialer Ausgenzung und Arbeitslosigkeit – und führte zu den rassistischen Morden der 90. Jahre und zu einer Reihe von versuchten Pogromen in der Zeit der Wirtschaftskrise. All dies ist nicht voneinander zu trennen und oft wird übersehen, dass sie aus dem nationalistischen Narrativ entspringen.
Es ist aber nicht unsere Absicht, die Ereignisse von vor 27 Jahren zu rekapitulieren oder Inspiration im autoritären Kommunismus von vor der Revolution zu suchen, der seine Legitimität ebenfalls zu grossen Teilen aus nationalistischer Unterdrückung bezog, konkret aus der ethnischen Säuberung der Nachkriegszeit. Wir wollen die Probleme adressieren, die jetzt und hier dringend sind. An dem Tag, an dem die Stadt in nationalistischem Sentiment versinkt, werden wir die Kritik in den öffentlichen Raum tragen, die dort schmerzlich fehlt – die Kritik an Nationalismus und Nationalstaat.
Mit der Flüchtlingskrise begann nichts Neues. Lediglich alte Vorurteile und Denkmuster, von denen der liberale Teil der Gesellschaft bisher dachte, dass sie lange vergessen seien, traten in der Öffentlichkeit wieder an die Oberfläche. Aufrufe, die Menschenrechte derer zu verletzen, die sich der nationalistischen Raserei entgegenstellen oder Menschen auf der Flucht eine helfende Hand reichen, zum Erschiessen von Menschen an den Grenzen und zur Inhaftierung von „Volksverrätern“ können nicht einfach als Ausfälle der extremen Rechten betrachtet werden. Der tschechische Nationalismus an sich trägt eine Geschichte der Unterdrückung, Ausgrenzung und Gewalt gegen diejenigen in sich, die als anders wahrgenommen wurden. Tschechen haben Roma niemals als gleichberechtigt betrachtet und auch in der oft idealisierten Ersten Republik wurden Letztere zu Objekten staatlicher Repression. Während des Zweiten Weltkrieges bot sich den Tschech_innen dann die Gelegenheit zur „Endlösung der Roma-Frage“ – in den Konzentrationslagern in Lety und Hodonín bei Kunštát, von wo aus diejenigen, die hier überlebten, nach Auschwitz geschickt wurden. Auch heute leiden Roma unter Alltagsrassismus und ein grosser Teil von ihnen lebt in Armut und hat grosse Schwierigkeiten, Arbeit oder eine Wohnung zu finden, um nur einen Teil der Probleme zu nennen. Roma waren in der tschechischen Geschichte aber nicht die einzige unterdrückte Minderheit – es reicht, sich an den Antisemitismus der Zweiten Republik zu erinnern oder die auf das Kriegsende folgende Abschiebung aller, in deren Dokumenten eine deutsche Nationalität vermerkt war, einschliesslich Überlebender der nationalsozialistischen Konzentrationslager und Antifaschist_innen. Rassismus ist die Norm in der tschechischen Gesellschaft. Die grosse Mehrheit der Tschech_innen hat eine negative Beziehung zu Roma und anderen Menschen, die nicht weiss genug sind, um als „anständige Tschechen“ durchzugehen. Auch die Beziehung zwischen Prag und den Einwohnern der Slowakei war immer paternalistisch geprägt und jedweder Widerspruch wurde von den Tschechen als nationalistisch gebrandmarkt und zurückgewiesen.
Wohl jeder Nationalstaat hat eine ähnliche Geschichte. Das ist kein Zufall. Nationen sind keine „natürlichen Entitäten“ mit Jahrtausende alter Geschichte, sondern ein Produkt der Moderne, das Hand in Hand mit dem Kapitalismus entstand. Nationen erfüllen eine Fuktion, die keine andere Form der Identifikation erfüllen kann. Im Kapitalismus herrscht Konkurrenz, die es nicht zulässt, dass alle gewinnen. Denjenigen, die in dieser Konkurrenz erfolglos bleiben, ermöglicht die Identifikation mit der Nation, sich als am Erfolg anderer beteiligt zu fühlen. Der Staat mit seinen Gesetzen, Repressionsorganen und anderen Funktionen schafft die Voraussetzungen dafür, dass der Wettbewerb funktionieren kann. In welchem Staat ein Mensch geboren wird, bestimmt grösstenteils über seine Chancen auf dem Markt. Im Kapitalismus haben alle ein Interesse daran, die Wirtschaft des eigenen Landes zu stärken, denn damit vergössern sich auch die eigenen Chancen auf Erfolg. Kapitalismus, Nation und Staat sind so untrennbar miteinander verschränkt. In Zeiten der Krise vertieft sich diese Verbindung, wenn die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt sich verschärft und es nötig ist, Schuldige für den eigenen Misserfolg zu suchen.
Die Nation reproduziert sich mithilfe von Feindbildern, sowohl äusserer wie innerer. Die Rolle des äusseren Feindes wurde zuletzt mit den „Flüchtlingsmassen“ besetzt, die dem Narrativ zufolge sich ohne jede eigene Anstrengung an „unserem nationalen Reichtum“ bereichern, sich „unserer Frauen“ bemächtigen und „unsere Kultur“ zerstören wollen. Die Rolle des inneren Feindes wird derzeit den sogenannten Neomarxisten zugewiesen, ähnlich wie früher den Bolschewisten oder Freimaurern. In Wirklichkeit wird dieses Etikett jedoch einer vollkommen heterogenen Gruppe von Rechtsliberalen bis radikalen Linken und Anarchisten aufgeklebt.
Hin und wieder hören wir, dass die nationale Identität nicht ersetzbar und es daher notwendig ist, ihr einen „positiven Inhalt“ zu geben. Aber auch wenn Nationalismus in der Vergangenheit eine emanzipatorische Rolle spielte, zeigt die Geschichte, dass er früher oder später immer zur Ausgrenzung von Menschen führt, unabhängig davon, ob die Nation ethnisch oder republikanisch definiert wird. Eine solche Unterscheidung von „bösem Nationalismus“ und „gutem Patriotismus“ ist illusorisch. Die Nation als Kategorie sozialer Grenzziehung trägt grundsätzlich die Ausgrenzung „anderer“ und die Homogenisierung ihrer Mitglieder in sich, von denen sie Anpassung und Loyalität verlangt. Kurz gesagt, der negative Inhalt lässt sich nicht heraustrennen.
Eine solche Analyse klingt deprimierend, und gerade deswegen dürfen wir die positiven Ereignisse des vergangenen Jahres nicht vergessen. Mit der Welle des Hasses kam gleichzeitig eine Welle der Solidarität, an der sich eine überraschend grosse Zahl von Menschen beteiligte, die Flüchtlingen ganz praktisch half. Ein Teil der Gesellschaft ist noch fähig, in Grenzfällen Hassreden wenigstens zu verurteilen. Das kann die Grundlage für die Entfaltung eines konsequenten Antinationalismus werden. Wenn wir mit unseren Überlegungen weiter in die Tiefe gehen wollen, können wir nicht bei der Verurteilung von Gewalt und dem Aufruf zu mehr Toleranz stehen bleiben. Es ist notwendig, klar auf den Kern des Problems zu verweisen – eine Gesellschaft, die auf den Prinzipen der Nation, des Patriarchats und der kapitalistischen Ökonomie basiert. Während soziale und feministische Kämpfe in unserer Gesellschaft zumindest in einem begrenzten Rahmen thematisiert werden können, wurden bisher die Problematiken der Nation und des Nationalstaats nicht kritisch reflektiert. Es liegt an uns, eine Alternative zu Nation, Staat und Kapital zu entwickeln.
Die heutige progressive Linke kann die Nation nicht zur Mobilisierung verwenden. Im Kontext der „Flüchtlingskrise“ ist es notwendig, sich gegen eine durch nationale Identitäten geteilte Welt zu wenden. Wir wollen eine Welt, in der sich alle (einschliesslich der Neuangekommenen) frei und vollkommen mit ihrem Stadtviertel, ihrer Clique, ihrem Musikstil oder was auch immer, das ihnen nahe liegt, identifizieren können, ohne dass ihnen dabei nationalistische Grenzen auferlegt werden.
Genau deswegen werden wir am 17. November im Zentrum von Prag demonstrieren. Wir thematisieren im öffentlichen Raum antinationale Solidarität, die Kritik des Nationalismus und den Rassismus des politischen Mainstreams. Gleichzeitig überlassen wir der extremen Rechten die Strasse nicht für ihre Propaganda.
Gegen jeden Nationalismus – für Solidarität ohne Grenzen!