Ura fragt nach – Antonia zu erschwerten Bedingungen in der Jugend- & Sozialarbeit.

Im dritten Teil der Reihe Ura fragt nach haben wir mit Antonia über Bedingungen und Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Jugend- & Sozialarbeit gesprochen. Auch in diesem Interview wird deutlich, dass die Corona-Krise vor allem bereits vorhandene Probleme verschärft. In der Jugendarbeit kommt die aktuelle politische Reaktion einem völlig unvorbereitetem, sozialem Kahlschalg gleich. Die behördlichen Maßnahmen sind undifferenziert und werden der gesellschaftlichen Realität nicht gerecht. Es zeigt sich, welchen Stellenwert soziale Arbeit in unsere Gesellschaft einnimmt.

Erzähl uns doch kurz in welchem Bereich du arbeitest

Hey, ich bin Antonia und aktuell in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit tätig, arbeite also in einem offenen Kinder- und Jugendtreff.

Wie sah deine Arbeit vor Corona aus und wie hat sie sich verändert

Offensichtlich ist natürlich zuerst, dass es seit geraumer Zeit eigentlich keinen „Offenen Treff“ mehr gibt. Im Zeitraum von Mai – Dezember durfte wir zwar öffnen, allerdings nicht wie zuvor. Personenzahl wurden notgedrungen minimiert, Angebote angepasst oder abgesagt, Hygienemaßnahmen verschärft. Dass hat nicht selten dazu geführt, dass wir Adressat*innen wieder wegschicken musste, weil der Treff „bereits voll“ war. Das hat dann ebenso oft zu Frustration und Enttäuschung bei selbigen (und auch bei uns) geführt. Wir haben zwar versucht diesem Problem mit „kreativen“ Lösungen zu begegnen, allerdings mit mäßigem Erfolg. Aus dem Ding sind wir irgendwie nicht raus gekommen. Auch haben wir zu Beginn (also im Mai) noch verstärkt auf Einhaltung von Hygiene- und Schutzmaßnahmen geachtet, dann allerdings gemerkt das Teile davon nicht wirklich praktikabel sind. Von daher war (und ist) das dann auch ein schmaler Grat zwischen Verantwortung für die Gesundheit aller und dem Versuch Bedürfnisse und Wünsche der Adressat*innen zu erfüllen ohne dabei zu restriktiv zu sein. Während der Lockdowns haben wir begonnen verstärkt auf den Bereich der digitalen Jugendarbeit zu setzen und versuchen über verschiedene Kanäle den Kontakt zu den Adressat*innen zu halten. Dies ist für viele Sozialarbeiter*innen noch ein eher ungewohntes Terrain und bringt sicher auch gewisse Fallstricke mit sich. Auch Erreichen wir damit nicht alle Adressat*innen, welche sonst regelmäßig in den Treff kommen. Gerade der Kontakt zu anderen Kinder- und Jugendlichen, welche wir noch nicht kennen und welche vielleicht einen Unterstützungsbedarf haben, ist gerade sehr hochschwellig.

Hat sich das Leben für die Adressat*innen deiner Arbeit verändert? Und wenn ja, wie?

Das könnten die Adressat*innen am besten beantworten, darüber weiß ich natürlich nur bedingt Bescheid bzw. kann meine Beobachtungen und Dinge die uns geäußert wurden wiedergeben.

Sind neue Problemlagen dazugekommen?

Schwierig zu sagen. Ich würde eher sagen, dass sich bereits bestehende Problemlagen wie z.B. Armut, Soziale Ungleichheit, eingeschränkte Teilhabe, psychische Belastungen usw. verstärkt haben. Leicht zu beobachten ist dies z.B. bei der Frage, wie Kinder- und Jugendliche mit der Situation „Homeschooling“ zurechtkommen. Während dies für manche Kinder eher kein großes Problem darstellt, ist dies für andere wiederum eine riesen Herausforderung. Wenn du weder die technischen Voraussetzungen (kein Laptop, Drucker…) dafür hast noch dich deine Eltern aufgrund geringer Deutschkenntnisse unterstützen können, ist dies halt eine andere Situation. Ich habe hier das Gefühl, dass eigentlich sozialstaatliche Aufgaben ausgelagert werden. Das hängt dann auch stark von dem individuellen Engagement einzelner Lehrer*innen ab, wie Schüler*innen mit dieser Situation umgehen können. Auch in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit wird dabei um den richtigen Umgang gerungen. Eigentlich ist schulische Unterstützung keine Aufgabe von offenen Treffs, auf der anderen Seite ist ersichtlich, dass die Bedürfnisse gerade bei strukturell benachteiligten Kinder- und Jugendlichen zum Teil enorm sind. Die Frage ist demnach, wie man sich in diesem Spannungsfeld verhalten will. Zu beobachten ist dies auch an den Bemühungen als Soziale Arbeit insgesamt als „Systemrelevant“ zu gelten. Ohne Zweifel hätte dies sicherlich Vorteile für die Adressat*innen, wenn wir weiterhin offen haben dürften und Kontakt leichter möglich wäre. Auf der anderen Seite sagt es allerdings auch viel über den Standpunkt und die Funktion Sozialer Arbeit aus, wenn man sich in kapitalistischen Verhältnissen als „Systemrelevant“ versteht. Auch aus diesem Widerspruch, scheint es kein Entkommen zu geben.

Ansonsten hat das Jugendamt bereits darauf aufmerksam gemacht, dass die Vorfälle von Kindeswohlgefährdung nach dem ersten Lockdown deutlich erhöht war. Irgendwie aber auch kein Wunder, bedenkt man, dass Kinder- und Jugendliche welche sich teilweise ein Zimmer oder gar Bett mit Geschwistern teilen fast den ganzen Tag zu Hause verbracht haben. Ohne sagen zu wollen, das Kinder- und Jugendliche aus vermögenden Familien davon nicht betroffen sind, aber es macht eben ein Unterschied, ob ich die Möglichkeit von Rückzug und Privatsphäre habe oder zu sechst in einer 70qm Bude wohne, wo ich nie für mich sein kann.

Aber auch das genaue Gegenteil ist zu beobachten. Kinder- und Jugendliche, welche vielleicht nicht über ein so stark ausgeprägtes Netzwerk verfügen, können sich auch schnell einsam fühlen. Die aktuelle Situation darf nicht zu Vereinzelung und Vereinsamung führen. Von daher sei daran zu erinnern, dass physical distancing kein social distancing bedeuten sollte!

Insgesamt würde ich demnach sagen, dass sich Problemlagen zugespitzt haben. Besonders betroffen sind dabei Menschen, die schon vor der Pandemie betroffen waren. Diese Krise trifft eben nicht alle gleich. Es bleibt abzuwarten, welche bisher noch nicht ersichtlichen Folgen noch zu Tage treten werden.

Was würdest du gern ändern und was wünschst du dir für die Zukunft?

Bezogen auf die Arbeit, fordere ich langfristige Strategien um mit den aktuellen Herausforderungen umzugehen. Während der erste Lockdown für alle überraschend kam, hat sich der zweite lang abgezeichnet. Warum dann von einen auf den anderen Tag fast alle sozialpädagogischen Angebote geschlossen werden ohne sich vorab überlegt zu haben, wie man Menschen welche einen Unterstützungsbedarf haben diesen auch gewährleisten kann, finde ich fatal. Damit meine ich keineswegs ein einfaches „weiter so“. Aber es muss gerade jetzt konkrete Unterstützung für alle die geben, welche sie brauchen. Ferner brauchen Kinder- und Jugendlichen auch jetzt Räume wo sie möglichst für sich sein können, sich austauschen, vernetzten und begegnen können. Räume in denen sie nicht dauernd unter Beobachtung stehen.

Ansonsten würde ich mir eine solidarische Gesellschaft wünschen, in welcher ökonomische Interessen nicht vor den Sozialen stehen. Ich habe Verständnis, dass wir gerade alle „Abstriche“ machen müssen, auf Dinge verzichten und auf uns achten. Wenn allerdings zeitgleich die Fabriken und Arbeitsstellen offen bleiben, obwohl genug Kohle da wäre auch diese ruhen zu lassen ist dies paradox. Hier wird eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung im Sinne einer neoliberalen Politik auf die Individuen verlagert. Offene Betriebe und geschlossene Treffs, das passt nicht zusammen. Wie kann es darüber hinaus sein, dass manche Menschen durch die Krise profitieren (ohne für die Bewältigung selbiger blechen zu müssen), – Länder bei der Vergabe und Verteilung von Impfstoffen sowie Patenten strukturell benachteiligt sind, weil sie nicht über die notwendigen finanziellen Mittel verfügen, – Menschen nach wie vor Erfrieren weil leerstehende (!) Hotels nicht geöffnet werden oder in völlig überfüllten und Menschenunwürdigen Lagern ausharren müssen, – während hier an alle Einzelnen appelliert wird, Abstände einzuhalten und Hygienemaßnahmen einzuhalten? Scheinbar ist nicht jedes Menschenleben von gleichem Wert. Somit wird offensichtlich, was ohnehin gilt: Corona ist die aktuelle Herausforderung, der Kapitalismus das eigentlich Problem! Für eine solidarische Praxis!


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