Ura fragt nach – Infektionsschutz vs. Arbeitsschutz? Noah zur Situation im Kunsthandwerk.
Aus redaktionellen Gründen leider mit einem halben Jahr Verzug, kommt nun Teil 6 unserer Reihe Ura fragt nach. Im letzten Teil der Reihe berichtet Noah unter anderem vom Spannungsfeld zwischen dem Umgang mit Infektionsschutzmaßnahmen im Freund:innenkreis und in der Lohnarbeit. Auch im Kunsthandwerk fehlen auf der eine Seite betriebliche Verbindlichkeiten zur Umsetzung des Infektionsschutzes und auf der anderen Seiten werden Maßnahmen ergriffen welche schlichtweg nicht praktikabel sind.
Hallo, kannst du Dich bitte kurz vorstellen?
Ich heiße Noah. Ich bin in einem mittelständigen Handwerksbetrieb als Gesell:in im Orgelbau angestellt. Neben der Arbeit in der Werkstatt gehören auch mehrwöchige Montageaufenthalte zu meinem Alltag.
Wie lief es für Dich vor der Corona-Pandemie und hat sich seitdem etwas für Dich verändert?
Im Vergleich zum Baugewerbe oder Betrieben der industriellen Holzverarbeitung sind die Löhne im Kunsthandwerk niedriger. Für viele Kolleg:innen ist die Leidenschaft für Material und Instrument deshalb darüber hinaus sehr zentral sinnstiftend. Das hier so eine starke Identifikation mit dem Produkt unserer Arbeit an Stelle von Entfremdungserfahrung tritt, lässt sich erklären: Orgeln werden durch Fördermittel und zu großen Teilen auch über Spenden aus langjährigen Kampagnen aus und in den Gemeinden finanziert. Das Instrument wird oft als Gut begriffen, das allen Gemeindegliedern gleichermaßen dient und nutzbar sein wird. Deshalb möchten wir niemanden unnötig darauf warten lassen, die Covid-19-Pandemie spielt dabei keine Rolle. Wir haben in den letzten Monaten weitestgehend so weitergearbeitet wie zuvor.
Corona-Schutzmaßnahmen werden aus verschiedenen Gründen nur sehr unzureichend eingehalten. Unsere Chefs übernehmen zu wenig Verantwortung, die Arbeitsabläufe und Pausenzeiten so zu gestalten, dass Kontakte und Abstände reduziert werden können. Pausenzeiten wurden zum Beispiel erst nach langem Ringen entzerrt. Zu groß war die Angst, dass die Zahl produktiver Arbeitsstunden dadurch sinkt, dass wir Arbeitenden unsere Pausenzeiten selbstständig ausdehnen, sobald diese von den Chefs nicht mehr so gut kontrollierbar sein können. Wahrgenommen werden die veränderten Pausenzeiten vom Großteil der Kolleg:innen trotzdem nicht. Viele von uns arbeiten den ganzen Tag an lauten Maschinen und brauchen die Ruhe, die in der halben Stunde entsteht, wenn einmal alle Maschinen still stehen. Infektionsschutz hin oder her.
Dem Ausfall von Arbeitskraft durch Quarantäne wird auch nicht mit einer verantwortungsvollen Kontaktbeschränkung vorgebeugt. Die Erfassung von möglichen Kontaktpersonen im direkten Arbeitsumfeld erfolgte in manchen Fällen auch eher sehr vorsichtig. Niemand hat Bock, auszufallen.
Viele meiner Kolleg:innen glauben auch nicht daran, dass eine Infektion mit dem Covid-19-Virus eine Erkrankung bei ihnen oder bei Familienmitgliedern nach sich ziehen würde. Maske trägt in unserem Betrieb niemand und einzelne Kolleg:innen benutzen immer noch kein eigenes Handtuch oder die Desinfektionsmittelspender. Konsequent gelüftet wird in vielen Arbeitsräumen nur, wenn es nicht zu kalt ist. Ich gehe immer davon aus, dass viele Kolleg:innen auch privat ihre Kontakte nicht einschränken. Die Inkonsequenz bei der Umsetzung der Maßnahmen, immer nur soweit wie es die Produktivität des Betriebes oder die individuelle Befindlichkeit der Kolleg:innen zulässt, belastet mich. Ich ertappe mich dabei, wie auch ich manchmal die Desinfektionshygiene weglassen möchte, weil ja auf den Türklinken vermutlich sowieso schon die Viren aller 40 anderen liegen.
Gibt es staatliche Maßnahmen bzw. Hilfen? Falls ja, wie greifen diesen in Deinem Sektor?
Natürlich gab es für Kolleg:innen mit Kindern auch Kurzarbeiter:innengeld. Schlecht an dieser staatlichen Maßnahme ist aber, dass sie nur dann greift, wenn es eine bestimmte Anzahl der im Betrieb Beschäftigten gibt, die sie in Anspruch nehmen können und wollen. Das hat dazu geführt, dass Kolleg:innen in Kurzarbeit gehen mussten, die das gar nicht wollten.
Wie geht es Dir im Allgemeinen? Wie sieht es in Deinem Freund:innenkreis aus?
Auf Montage müssen wir natürlich trotzdem. Neben unnötig vielen Kontakten in Hotels und auf Reisen erlebe ich das aber als positiv. Das unterwegs sein dürfen wegen der Lohnarbeit hat mich sicher vor der einen oder anderen ernsthaften Sinnkrise bewahrt, die Menschen im Homeoffice in den letzten Monaten zu bewältigen hatten. Statt Minusstunden habe ich im letzten Jahr dreistellig Überstunden geschrieben. Die meisten meiner Freund:innen studieren oder arbeiten im Büro. Das letzte Jahr haben sie im Homeoffice verbracht, hatten Zeit, Sprachen zu lernen, Stricken zu lernen oder wahlweise ausgiebig in WG-Küchen zu frühstücken oder den Tag ebenso ausgiebig mit der einen oder anderen Flasche Wein zu beschließen. Natürlich sehe ich auch ihre Sorgen, das Ende projektbezogener Arbeit oder befristeter Verträge, Herausforderungen beim Trennen von Arbeit und Freizeit zu Hause oder ihr Scheitern bei Versuchen der Selbstmotivation und Strukturierung. Die großen Sinnfragen. Im letzten Jahr hat sich unser Alltag aber in so vielen Aspekten so grundsätzlich verändert, dass kaum noch etwas übrig bleibt, was sich teilen lässt. Kaum noch Orte und Zeiten, in denen Begegnung möglich ist.
Meine Freund:innen nehmen die Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19-Infektionen sehr ernst. Das ist gut. Aber wenn sowieso alle zu Hause sind, kann sich ja auch niemand anstecken?! Also können sie sich auch alle in recht großen sozialen Nahräumen weiterhin treffen.
Für mich als lohnarbeitende Person, die ihre Kontakte nicht durchs Ausweichen ins Homeoffice reduzieren kann oder die Corona-Leugner:innen auf der Arbeit begegnen muss, ist da oft kein Platz. Ein Beispiel: Im letzten Frühjahr musste ich einen Montageaufenthalt abbrechen, da mehrere Familienmitglieder meines Kollegen an Covid-19 erkrankten. Ich informierte meine Nachbarin, dass ich nach Hause käme, um mich testen zu lassen und um abzusprechen wie wir Begegnungen im Treppenhaus organisieren könnten. Ich erhielt einen Rückruf ihres Partners, der parallel noch in einem großen Hausprojekt wohnt. Durch die Blume fragte er, ob es nicht besser wäre, ich bliebe dort im Hotel und brächte die Potentialität einer Infektion nicht mit zurück zu mir und zu ihnen nach Hause.
Gibt es Unterschiede im Umgang Deiner Freund:innen mit der Pandemie im Vergleich zu Deinen Kolleg:innen? Was sollte Deiner Meinung nach in Bezug auf (staatliche) Maßnahmen passieren?
Die jungen, gesunden Akademiker:innen, meine Freund:innen im Homeoffice, glauben sich in Räumen, die vom gesellschaftlichen Infektionsgeschehen entkoppelt scheinen und schränken sich in diesen sozial wenig ein. Meine Kolleg:innen sind älter oder vorerkrankt, sehen sich der regionalen Infektionsentwicklung aber so ausgeliefert, dass sie resigniert kaum noch persönliche Maßnahmen ergreifen, um sich und andere zu schützen. Und dazwischen sitze sich und auf keiner der Seiten finde ich meinen Platz.
Vielleicht sind meine Kolleg:innen einfach Scheiß-Corona-Leugner:innen, vielleicht lässt sie aber auch – wie mich – die Inkonsequenz bei der Umsetzung der Maßnahmen notwendigerweise verzweifeln und resignieren. Solange es keine politischen Maßnahmen gibt, welche die Chefs verbindlich verpflichten, Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens auch in ihren Betrieben konsequent durchzusetzen, wird sich daran nicht viel ändern. Wenn Ausfälle durch vorsorgliche Quarantäne oder Krankheit nicht ebenso konsequent betriebswirtschaftlich einkalkuliert werden, leiden Kolleg:innen, die dann alleine für die Einhaltung der Termine verantwortlich sind. Wenn sich das nicht ändert, werden sich viele Beschäftigte vielleicht nicht testen lassen, sollte die wöchentliche Testpflicht für Unternehmen aller Branchen politisch durchgesetzt werden. Weil es im Lohnarbeitsverhältnis Stress bedeutet, in Quarantäne zu gehen. Unternehmenserfolge müssen sich den Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie unterordnen, sonst ist dieser Kampf nicht zu gewinnen.
[Interview mit Noah: Stand April 2021]